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Ansichten / Einsichten

Carl Friedrich Schröer

Ich habe oft das Gefühl, daß die Schauplätze in Franziskus Wendels Bildern, Schauplätze aus meiner eigenen Erinnerung sind. Die erleuchteten Straßen, die nächtlichen Städte, die namenlosen Fenster. Das mag darin liegen, daß die Welt, die uns Wendels zeigt, überschaubar und entrückt zugleich erscheint. - Entrückt wie eine Erinnerung, die uns in seinen Bildern lebendig gegenüber tritt. Es sind die gleichen Lichter, Verkehrsschilder, Schaufenster, Hausfassaden, die wir immer schon kennen, mit denen wir aufgewachsen sind. Was ich als Kind von der Welt jenseits meiner unmittelbaren Nachbarschaft sah, sah ich vom Rücksitz des Autos meiner Eltern aus. Flüchtige Blicke aus eine rasch vorbeiziehende Welt. Sie war still. Sie besaß ihr eigenes Leben und sie wußte nicht und kümmerte sich nicht im geringsten darum, ob ich zu diesem oder jenem Zeitpunkt zufällig vorbeifuhr. Und wie die Welt in Wendels Bildern erwiderte sie meinen Blick nicht.
Es zeigt sich, daß die Bilder eine Vergegenwärtigung der eigenen Erinnerung durch ein Wiedererkennen einzelner, ganz konkreter alltäglicher Dinge, Lampen, Straßen, Leitplanken, Schienen, Fenster auslösen, und daß diese jäh auftauchende Erinnerung in ihre persönlichen Wendung und Entfaltung nicht aufgehalten wird durch allzu viele Details. Das Meiste in Wendels Gemälden bleibt ohnehin im Dunklen. Die wenigen Lichtzeichen und bestimmte, immer wieder kehrende geometrische Formen beeinflussen eine mögliche Reaktion des Betrachters vielleicht mehr als eine allzu konkrete Schilderung. Es entsteht über die persönliche Erinnerung hinaus ein Sog, zu jedem der Gemälde eine Geschichte zu erfinden. Die unvollendeten, menschenleeren Nachtszenen enthalten einen narrativen Imperativ, so als wollte der Maler uns verleiten, den eigenen Traum fortzuschreiben.

In Heimkehr 4 sehen wir eine Landschaft, so wir wir sie von einer nächtlichen Autoreise her kennen. Die nächste Kurve fest im Visier, dahinter die Berge. Der Blick fällt durch die Windschutzscheibe auf die Straße vor uns, aus dem Dunkel tauchen jäh die Verkehrszeichen auf. Vorsicht Linkskurve. Schon verlagert man vorausschauend das Gewicht nach rechts. Es ist schon Nacht. Die schneebedeckten Berge türmen sich hoch. Von Heimkehr keine Spur. Wie viele Kurven es noch bis nach Hause sind, darüber gibt es das Bild keine Auskunft. Aber es wird spät werden in dieser Nacht. Man spürt die Müdigkeit aufsteigen, und immer wenn die Lichter zu grell aufleuchten, wird man die Augen unwillkürlich zusammenkneifen. Auch hier sind, wie in anderen Wendels-Bildern, in denen Straßen und Wege eine wichtige Rolle spielen, keine Autos zu sehen. Niemand teilt mit uns, was wir sehen, und niemand war vorher da. Was wir erleben, können wir nicht teilen. Es gehört uns ganz allein. Die beim Reisen gemachte Erfahrung des Ausgeschlossenseins gedeiht zusammen mit unserem Gefühl von Verlust und unserer vorübergehenden Abwesenheit. Die Verkehrsschilder, der Mittelstreifen  reflektieren das Licht der Scheinwerfer. Sie verheißen Gefahr. Wir gehen in die Kurve, ohne den weiteren Verlauf der Straße erkennen zu können. Wie so viele anderen Szenen, die wir im Vorübergehen registrieren, zieht uns ihre plötzlich, unvermittelte Klarheit an, isoliert uns für einen Augenblick von allem anderen und gibt uns dann wieder frei, damit wir unseren Weg fortsetzen. Doch in Heimkehr kommen wir nicht so schnell davon. Es ist vielleicht zu spät. Niemand ist mehr unterwegs. Die Kette der Alpen ragt wie eine unüberwindliche Wand vor uns auf. Sie nimmt fast das ganze Bild in Anspruch. Wie ein Hindernis ragt von links ein keilförmiger Schatten ins Bild und soviel scheint sicher: das Gebirge wird noch unendlich viele Schatten auf die Straße werfen, wir müssen ihr folgen. Es ist sonst nichts weit und breit.

In Heimkehr 4  scheint die Straße wie verschmolzen mit der Landschaft. Ja sie erscheint sogar als ihr optischer Höhepunkt und Hauptattraktor. Im Mittelgrund durchzieht die Autobahntrasse auf ihren doppelten Pfeilern das Tal in elegantem Schwung. Der Verkehr saust störungsfrei in beiden Richtungen. Das ist die gute Nachricht. Wendels zeigt dieses Panorama des Alpenverkehrs als klassische Überblickslandschaft. Vordergrund und Hintergrund sind beinahe völlig vom Dunkel ringsum verschluckt. Nur die Straße und das monumentale Brückenbauwerk strahlen in die Nacht. Sie geben dem Bild Halt und Struktur. Wir sitzend hier nicht im Auto, sondern auf einem fernen Beobachterposten hoch über dem Tal. Was dem Bild ein bestimmendes, lichtdurchflutetes Zentrum gibt, ist eine Transitstrecke, deren höchste Bestimmung es doch ist, den Verkehr flüssig zu halten. So schnell wie möglich wollen die nächtlichen Passanten die Berge hinter sich lassen. Weiter, ihrem unbekannten Ziel entgegen. Was wir sehen, liegt nicht in ihrem Blickwinkel und Interesse. Die weite Landschaft mit dem Bergpanorama ist seit je Ausdruck von Dauer und Beständigkeit. Sie wird durchschnitten von einem Band der permanenten Mobilität. Das Ziel der mobilen Nighthawks hinter dem Steuerrad liegt außerhalb des Bildes und jenseits solcher Größen wie Verweilen und Ewigkeit. Im nächsten Augenblick werden sie mit hoher Geschwindigkeit die vertraute landschaftliche Szene wieder verlassen haben. Wir haben es mit einer Momentaufnahme im Gewand einer Landschaft zu tun. Geschwindigkeit bedeutet die Auflösung von Landschaft. Das ist die trügerische Nachricht des nächtliches Idylls.

Wenn die Geschichten, die wir erfinden, zu weit ausgreifen, ruft uns die Geometrie des Bildes wieder zur Ordnung, und wenn die Geometrie des Bildes langweilig wird, behauptet sich sein narratives Potential von neuem.  
So wird deutlich, daß wir es bei Wendels Gemälden mit "Wackelbildern" zu tun haben. Sie sind auf einen Kippeffekt hin kalkuliert. Je nach Grundüberzeugung, Vorwissen, Tagesform oder Perspektive ihrer Betrachter lassen sie sich unterschiedlich lesen: als gegenständlich oder abstrakt, konzeptuell oder narrativ, bedrohlich oder behaglich, hell oder dunkeln, positiv oder negativ. Das allein aber wäre nicht weiter außergewöhnlich. Schon erstaunlicher ist, mit welch reduzierten Mitteln Wendels zielsicher auf den je unterschiedlichen Ambivalenzpunkt der Bilder zusteuert. Genau auf dem Wendepunkt macht der Maler Halt. Positiv/negativ, Schwarz/Weiß, Dynamik/Statik, Bewegung/Dauer, Ansicht/Einblick werden in einem Bild gleichzeitig präsent. Dieser immanente point of return hält die Bilder in einem labilen Gleichgewicht: ein Schritt weiter und die Spannung müßte entweichen.

In der Frage, wie weit die Szenen in Wendels Bildern von einer Dunkelheit bestimmt sind, die uns gefangenhält oder zumindest einschränkt, ist das Problem unserer Beziehung zur Zeit eingeschlossen. Was tun wir mit der Zeit, und was tut die Zeit mit uns? In Wendels Bilder geschieht nichts. Es gibt keine Aktion, keinen klar erkennbaren Ort, an dem etwas passiert oder passieren wird. Die Straßen verlieren sich in der Nacht, die Lichter leuchten für Niemand. Es herrscht eine surrende Spannung. Eine Änderung steht gleichwohl nicht zu erwarten. Die Zukunft ist irgendwie auf der Strecke geblieben.
Feierabend ist ein dreiteiliges Bild, das auf einem Abhang eine von innen erleuchtete Villa zeigt. Wir werden sie von unten durch den nächtlichen Wald gewahr. Nichts regt sich, nichts zeigt sich. Das überdehnte Querformat zeigt das moderne Wohnhaus nur schemenhaft in der rechten Bildhälfte verdeckt hinter Baumstämmen. Aus der Finsternis treten allein die erleuchteten Fenster hervor, die Augen, die unseren Blick zurückwerfen. Wir werden am Fuße des Waldhangs zu nächtlichen Beobachtern hinter den Bäumen. Ein träumerisches Zusammenwirken von Stille und Gespanntsein erweckt den Anschein, als werde ein magischer Moment ausgedehnt, und wir seien seine privilegierten Zeugen. Unser forschender Späherblick bleibt zwar ohne Ergebnis. Wir können keinen Mitteilung machen, über das, was uns doch brennend interessiert: was spielt sich in dem Haus eigentlich ab? Allerdings wird unser privilegierter Beobachterstatus bald erschüttert. Denn aus den hell erleuchteten Fenstern heraus werden am Ende wir observiert. Das Haus auf dem Hügel erscheint nicht mehr als Objekt (der heimatlichen Sehnsucht), sondern als Beobachtungsstand.
Wir als Beobachter sind längst aufgefallen.
Wendels setzt eine rethorische Figur variantenreich ein: "eigentlich ....allerdings". "Eigentlich sehen wir alles klar. Allerdings herrscht ziemliche Dunkelheit". "Eigentlich läßt sich alles in Ruhe beobachten. Allerdings gibt sich nichts wirklich zu erkennen." "Eigentlich sind wir mit der Welt gut vertraut. Allerdings muß man auf alles gefaßt sein." Wendels ist aber nicht der Maler des zeitgenössischen Relativismus vom Einerseis/Andererseits. Er läßt uns optisch, gedanklich und gefühlsmäßig hin- und herspringen, steigert dergestalt die latente Unsicherheit über das, was wir zu erkennen glauben. Im Bild ist nur, wer sich nicht im Bild glaubt. Kaum stehen wir bei Wendels augenblicklich mit einem Fuß im Bild, hat er uns auch schon erwischt und wirft uns wieder hinaus.

Die Spannung, die über seinen Tableaus liegt, läßt sich so schwer bestimmen wie das Licht in den Bildern. Das Licht ist eigentümlich. Verschwommenes Licht wie in einer schwülen südamerikanischen Sommernacht. Künstliches Licht, das in die Augen fällt und die Gesichter Betracht fahl erscheinen läßt, die es zu lange anstarren. Es erscheint überhaupt ein wenig zu grell und zu künstlich, um daran ernsthaft glauben zu können. Es erlischt seine Strahlkraft, die Farbe Weiß erscheint auf der Leinwand. Das Bild wird zum Kommentar über die gegenwärtige Diskussion über den Status von Bildern. Der Vorschlag, Bilder als einen Erscheinungsgrund zu verstehen, auf dem etwas als dargeboten erscheint, führt zu Abgrenzungen gegenüber Phänomenen wie Film und Cyberspace. Er biete außerdem Anlaß, sich der Differenz zwischen innerbildlicher und außerbildlicher Wirklichkeit neu zu vergewissern. Die Höhlenbewohner sind eben darin unfähig, das Wirkliche zu erkennen, daß sie unfähig sind, die ihnen präsentierten Schattenbilder als Bilder zu erkennen. Wer Bilder sehen kann, so folgt aus Platons Sprachbild, ist gegen die Weltblindheit grundsätzlich gefeit - wenn auch nur grundsätzlich.

In Akrobaten 6 hat das Licht nicht Beunruhigendes an sich. Es kommt durch ein Fenster und fällt auf einen weiße Wand. Die schwarze Sprossung wirft vielfachen Schatten. Mehr geschieht nicht. Es gibt nur diese Aussicht durch das imaginierte Fenster. Rhythmisierte Schatten auf einer weißen Wand. Es gibt ein Bild von Edward Hopper, Sun in an Empty Room aus dem Jahr 1963, auf das Wendels Akrobaten wie ein Echo antwortet. Es ist das letzte große Bild Hoppers, in der er die Vision einer Welt ohne uns zeigt. Schonungslos. Nicht bloß ein Ort, der uns ausschließt, sondern ein Ort, der von uns geleert ist. Die Schatten spielen Akrobaten. Die nackten Wände sind die besten Freunde der Künstler.
Heimkehr 4
Akrobaten 6